18. Kapitel
Washington, D.C. 14. Februar
Laura Vilechi stieg auf einen Stuhl und reckte sich, um an den Fernseher zu kommen, der an der Wand des SIOC befestigt war. Wie gewöhnlich war die Fernbedienung nirgends zu finden, was sie nicht weiter überraschte bei fünfzehn Männern, die hier zu jeder Tages- und Nachtzeit ein und aus gingen. Was faszinierte nur Männer so an Fernbedienungen?
Sie drückte den Lautstärkeknopf, und das Gemurmel auf CNN, das bislang eher ein Hintergrundgeräusch gewesen war, wurde verständlicher. Sie setzte sich wieder an den Konferenztisch und zischte zwei Agenten zu, die auf der anderen Seite des Raums laut miteinander redeten.
Die Kamera zeigte gerade endlose Reihen von kleinen Käfigen, die in kahle Betonwände eingelassen waren. In jedem saß ein Hund. Das ominöse Spritzensymbol in der rechten Ecke des Bildschirms zeigte, dass es sich um eine Sendung über »Die Drogenkrise« handelte. Die dramatische Themenmusik, die CNN für die größte Story des Jahrzehnts ausgewählt hatte, erfüllte den Raum. Laura wartete gereizt, was nun kommen würde. Die Medien hatten permanent in jeder Zeitschrift, jedem Radiosender und jeder Fernsehstation aus allen erdenklichen Blickwinkeln über diese verheerende Katastrophe berichtet, und die Reportagen waren mit der Zeit immer abstruser geworden. Sie fragte sich, ob der lässig gekleidete junge Reporter etwa versuchen würde, das Haustier eines Opfers zu interviewen.
»Ich bin hier im Tierheim in der Siebzehnten Straße in Chicago, Illinois«, begann er und schlenderte durch den schmalen Korridor an den Käfigen vorbei. Die Kamera brachte einige der niedlicheren Tiere groß ins Bild. Er blieb neben einem Käfig stehen, in dem ein kleiner Bordercollie saß.
»Bis gestern hätten Sie vielleicht eine junge Familie durch diese Gänge gehen sehen, die nach einem treuen Freund für ihr Kind sucht.«
Er wandte sich um und tippte an den Käfig. Der Collie sprang aufgeregt ans Gitter und freute sich über die Aufmerksamkeit. Mit ernstem Gesicht schaute der junge Reporter wieder in die Kamera. »Das ist Darby.« Der Hund winselte glücklich, als er seinen Namen hörte. »Darby soll in drei Tagen eingeschläfert werden. Bis gestern hatte er noch eine Chance. Ein kleines Mädchen, das mit seinen Eltern hierher gekommen wäre, hätte sich bestimmt gleich in ihn verliebt.« Darby bellte zustimmend.
Der Reporter ging weiter, und der hoffnungsvoll winselnde Collie verschwand. Stattdessen erschien eine schlanke, ernst aussehende Frau.
»Gestern«, fuhr der Reporter fort, »hat dieses Tierheim, wie alle anderen Tierheime im Großraum Chicago, seine Vermittlungen eingestellt.« Als er sich zu der Frau umwandte, blitzte ein Schriftzug auf, der sie als Direktorin der Tierheime im Gebiet von Chicago vorstellte.
»Mrs. Kelly, darf ich fragen, was Sie zu Ihrem Entschluss gebracht hat, keine Tiere mehr zu vermitteln?«
»J… ja.« Sie war eindeutig nicht an Kameras gewöhnt. »Im Verlauf der letzten Wochen sind rund dreißig Prozent mehr Leute zu uns gekommen, die sich einen Hund zulegen wollten – und meine Nachforschungen deuten darauf hin, dass die meisten Tierheime einen ähnlichen Anstieg erlebt haben. Wir wussten zuerst nicht, was die Ursache dafür war, aber dann hörten wir Gerüchte, dass die Leute an ihnen ihre Drogen testen.« Ihre Stimme bebte. »Zuerst haben wir das nicht geglaubt. Wir konnten uns nicht vorstellen, dass irgendjemand etwas so Grausames tun könnte. Aber als wir darüber nachdachten, wurde uns klar, dass es stimmte. Sehr vielen, die zu uns gekommen sind, schien es auffallend gleichgültig zu sein, welchen Hund sie bekamen. Sie wollten einfach irgendeinen.«
Sie schwieg einen Moment lang, und ein trauriger Ausdruck glitt über ihr Gesicht. »Seit gestern wissen wir es nun mit Sicherheit. Ein Tierarzt, mit dem wir zusammenarbeiten, hat einen Hund wegen massiven Versagens von Leber und Niere behandelt. Er hat bestätigt, dass der Hund vergiftet wurde und Spuren von Kokain im Blut hatte …«
Laura sprang wieder auf den Stuhl und schaltete hastig ab. Sie hatte sich nach ihrer Scheidung vor ein paar Jahren einen gelben Labrador gekauft, und sie wusste nicht, was sie tun würde, wenn ihn jemand vergiftete.
»Ziemlich grausig, was?«
Sie hatte nicht bemerkt, dass Beamon während des Fernsehberichts hinter ihr gestanden hatte.
»Sind wir eigentlich sicher, dass wir wissen, was wir tun? Schuften wir uns dafür halb tot, um solche Leute zu retten?«, fauchte sie empört. »Was für Abschaum ist das, der einem Hund vergiftetes Koks gibt?«
»Sie sind verzweifelt, Laura«, sagte er und setzte sich an den Konferenztisch. »Wir beide werden uns nie vorstellen können, wie es ist, nach etwas so süchtig zu sein.«
Laura nickte traurig. »Ich weiß, dass Sie Recht haben. Wenn man so was sieht, kommt man schon ins Grübeln, nicht wahr?« Sie deutete durch die Glaswand in das Zimmer nebenan. »Es scheint, als wären alle da. Sind Sie bereit für unser erstes gemeinsames Treffen?«
Er zog eine Grimasse.
Laura ging ihm voraus, und er musterte sie beifällig. »Guten Tag, meine Herrn.«
Alle Plätze rund um den kleinen Tisch waren besetzt. Dick Trevor von der DEA saß Beamon gegenüber, rechts neben ihm Tom Sherman und Trace Fontain zu seiner Linken. Kein Einziger in der Runde lächelte. Lauras Stimmung schien ansteckend zu sein.
»Also, wie läuft der Krieg?«, fragte Beamon hoffnungsvoll.
Niemand schien anfangen zu wollen. Fontain wandte tatsächlich den Blick ab wie ein Kind, das die Antwort auf die Frage des Lehrers nicht wusste.
»Haben Sie das gesehen, Mark?« Trevor zog zwei Ausgaben von Newsweek aus seiner Aktentasche und schob sie Beamon und Tom Sherman zu. »Ist heute Morgen rausgekommen.«
Das Foto auf der Titelseite zeigte in drastischer Deutlichkeit eine Leiche, die auf einem Sofa in einer unordentlichen Wohnung lag. Es sah aus, als sei der Mann schon seit ein paar Tagen tot.
»Vierunddreißig, Mark.
«Beamon blätterte weiter. Ein etwas überbelichtetes Foto von der Pressekonferenz, das ihn, flankiert vom Präsidenten und dem Direktor, zeigte, füllte die gesamte Seite.
»Finden Sie, ich wirke zu fett?« Er hielt die Zeitung für Laura hoch. Sie lächelte und entspannte sich ein wenig.
»Lesen Sie mal die Umfrage«, forderte Trevor ihn auf.
Beamon schaute auf die Seite gegenüber, während Laura aufstand und sich über seine Schulter beugte. In einem gelben Kästchen war eine Umfrage von Newsweek/Gallup abgedruckt, ob man für oder gegen den CDFS sei. Einunddreißig Prozent waren für den CDFS und weitere siebzehn Prozent unentschieden.
Beamon reichte die Zeitschrift Laura, die zu ihrem Platz zurückkehrte und sie durchblätterte.
»Was haben Sie sonst noch, Dick?«, fragte Beamon ruhig.
Trevor zuckte die Schultern. »Nicht sehr viel. Wir sind ein Stückchen weitergekommen seit unserem letzten Treffen, aber es gibt noch nichts Konkretes. Sieht so aus, als sei die Sendung ziemlich weit oben in der Verteilerkette vergiftet worden. Wir reden im Moment mit einigen … na ja, nennen wir sie mal Großhändler. Tut mir Leid.«
Beamon wusste, dass Trevor die schlechte Angewohnheit hatte, jedes Versagen persönlich zu nehmen und ganze Nächte damit zu verbringen, sich Vorwürfe zu machen. Kein gesunder Wesenszug bei einem DEA-Agenten.
»Ich habe allerdings einige interessanten Fakten, aber sie haben nicht unmittelbar etwas mit unseren Ermittlungen zu tun«, fügte Trevor hinzu.
»Nur zu, immer raus damit.«
»Wir haben von unseren Agenten aus dem ganzen Land Daten zusammenstellen und sie per Computer analysieren lassen. Soweit wir es beurteilen können, ist der Kokainkonsum um sechzig Prozent gesunken.«
Laura schaute von ihrer Zeitung auf. »Herrgott!«, sagte sie unwillkürlich.
Sherman schaute sie vorwurfsvoll an und wandte sich an Trevor. »Wer hat Sie angewiesen, eine solche Untersuchung durchzuführen?«
»Na ja, Direktor Calahan wollte genauere Informationen darüber haben, welche Auswirkung diese Geschichte auf den Drogenkonsum hat.«
»Hören Sie auf«, sagte Sherman.
»Bitte?«
»Schluss damit. Unter keinen Umständen werden Sie noch länger derartige Informationen sammeln. Sie haben die Umfrage gesehen.« Er tippte auf seine Ausgabe der Newsweek. »Wenn Ihre Statistiken durchsickern, werden wir noch stärker gegen die öffentliche Meinung zu kämpfen haben als sowieso schon.«
Trevor sah anscheinend ein, dass er Recht hatte, schien sich aber etwas unbehaglich zu fühlen.
»Ich rede mit Calahan«, versprach Sherman.
Trevor lehnte sich erleichtert in seinem Stuhl zurück, da er sonst nichts weiter zu berichten hatte.
»Laura, was gibt es bei Ihnen?«, fragte Sherman.
»Warte mal eine Sekunde«, warf Beamon ein. »Ich glaube, über Dicks Zahlen sollten wir noch ein wenig reden.«
»Und was genau möchtest du diskutieren?«
»Verdammt, ich weiß es nicht. Aber gibt es euch nicht zu denken, dass das CDFS mit ein paar Leutchen und weniger Geld, als die USA für die Erforschung des Paarungsverhaltens bei Schnabeltieren ausgibt, etwas geschafft hat, was sämtliche Regierungsbehörden nie erreichen werden?«
»Und was empfiehlst du uns, Mark? Hören wir einfach auf, nach diesen Kerlen zu suchen? Sollen sie doch ruhig alle umbringen, die der Gesellschaft Probleme bereiten?«
Beamon schaute unbehaglich auf seine Schuhe. Er fühlte sich wie ein Kind, das von seinem Lehrer eine Rüge erhalten hatte. »Nein.«
»Ich verstehe ja, was du meinst, Mark. Diese Gerüchte, dass der Drogenkonsum drastisch zurückgeht, sind mir schon seit ein paar Tagen bekannt, aber unser Job ist es, diese Kerle zu fassen und nicht, über gesellschaftspolitische Fragen zu diskutieren.«
Beamon wandte sich wieder an Trevor. »Wie viele Leute sterben jedes Jahr durch Verbrechen, die mit Drogen in Zusammenhang stehen?«
»Keine Ahnung. Viele.«
»Schluss jetzt, Mark«, warnte Sherman. »Ich will das nicht hören. Es ist leicht, Zahlen in einen Computer zu tippen und statistisch nachzuweisen, dass es rein rechnerisch Vorteile hätte, unsere Drogenkonsumenten zu vergiften, und alles andere zu ignorieren. Aber was ist, wenn dein Kind dazugehörte?«
Beamon schwieg, und Sherman wechselte das Thema. »Okay, Laura, berichten Sie uns, wie weit Sie mit Ihren Ermittlungen sind.«
»Nun, im Moment haben wir leider immer noch keine handfesten Spuren. Die Schecks haben jedenfalls nichts gebracht. Der Verdächtige hat sie bar bezahlt und ist dann verschwunden. Wir gehen der Sache weiterhin nach, aber große Hoffnung habe ich nicht.« Sie kramte in ihren Papieren und fuhr fort. »Die Hotline, die wir eingerichtet haben, hat sich eher in ein Forum für öffentliche Bekundungen verwandelt – meistens melden sich Leute, die dem CDFS Beifall zollen und finden, wir sollten uns zurückhalten. Auf Marks Vorschlag haben wir die Anrufe nun kostenpflichtig gemacht. Hoffentlich wird das den Ansturm etwas verringern. Wie Sie wissen, haben wir eine Belohnung von fünfhunderttausend Dollar für Informationen ausgesetzt.«
Sie stand auf und holte aus einer Ecke des Konferenzraums eine große Papptafel, auf die eine etwa glockenförmige Linie gezeichnet war, daneben ein kleineres rotes Kästchen. »Wir sind jetzt bei rund fünfzehntausendachthundert Opfern. Diese blaue Linie zeigt die täglichen Todesfälle durch vergiftetes Kokain. Wie Sie sehen können, steigt sie in der ersten Woche ziemlich steil an. Das liegt an der verspäteten Reaktion des Gifts, mit der niemand gerechnet hatte. Sehr viele haben weiter konsumiert und gedacht, sie hätten nichts zu befürchten. Jetzt geht die Kurve allmählich zurück. Erstens, weil das vergiftete Koks offenbar allmählich verbraucht ist. Zweitens, wie Dick schon gesagt hat, weil weniger konsumiert wird. Und drittens sind eine ziemliche Anzahl von Konsumenten … nun ja, sie sind tot. Letzteres hat allerdings statistisch keine große Auswirkung.«
Sherman deutete auf die Mitte der Kurve. »Und was bedeutet es, wenn sie von blau zu schwarz wechselt?«
Beamon verdrehte die Augen. Genügte es nicht schon, dass Laura ihr halbes Leben damit verbrachte, Kurven und Tabellen zu zeichnen? Jetzt zog Tom auch noch die Diskussion darüber unnötig in die Länge.
»Die schwarze Linie stellt unsere Prognose dar, wie viele Todesfälle noch zu erwarten sind. Sie sehen, dass sich die Farbe mit dem heutigen Tag verändert.«
Sherman nickte. »Sie nehmen also an, dass kein vergiftetes Kokain mehr auf dem Markt ist, richtig?«
»Genau. Was passieren würde, wenn eine weitere Drogenlieferung vergiftet würde, ist schwer zu sagen. Das hängt davon ab, wie sicher die Leute sind, dass das vergiftete Kokain verbraucht ist.«
»Und was ist das?« Sherman deutete auf den roten Balken.
»Oh, das sind die Toten bis zum heutigen Tag. Fünfzehntausendachthundert.«
Laura lehnte den Karton wieder an die Wand und setzte sich, während Sherman zu Beamon schaute. »Was gibt’s bei dir, Mark?«
»Es stellte sich heraus, dass die Zollbehörden keinerlei Unterlagen darüber haben, dass jemand eine Ladung Pilze ins Land gebracht hat, die nicht an einen rechtmäßigen Empfänger ging – Lebensmittelläden, Restaurants und dergleichen. Scott Dresden verfolgt die Pilzgeschichte von Bonn aus weiter – wo sie herstammen und wie man sie hierher verschickt hat. Bislang ohne Ergebnis – aber er ist ein guter Mann.«
»Ziemlich komplizierte Sache«, meinte Laura mitfühlend, »irgendeinen Kerl zu finden, der in Polen durch die Wälder stapft und Pilze sammelt.«
»Und er muss es auch noch ohne irgendwelche Grafiken und Tabellen machen«, ergänzte Beamon.
Sie versetzte ihm unter dem Tisch einen festen Tritt.
Beamon schaute zu Fontain und rieb sich mit der Schuhspitze das Schienbein. »Trace – würden Sie uns allen erzählen, was Sie mir erzählt haben?«
Fontain fühlte sich sichtlich unbehaglich. Er mochte solche Besprechungen nicht und hatte sich heftig gesträubt, als Beamon ihn gebeten hatte zu kommen. »Sie wissen, dass wir versucht haben, so ungefähr mit jedem Opfer zu reden, um herauszufinden, woher die Leute ihr Koks hatten. Nun, gestern haben wir mit einem jungen Mann gesprochen, der schwört, dass er seit sechs Jahren keins mehr genommen hat. Wir haben heute Morgen einige Tests gemacht und konnten bestätigen, dass er die Wahrheit gesagt hat. Er ist heroinabhängig.«
»Gottverdammt«, rief Sherman, der sonst nur selten einen Kraftausdruck gebrauchte. »Wo hat er es her?«
»Aus LA.«
Beamon meldete sich zu Wort, um Shermans Aufmerksamkeit von dem verunsicherten Wissenschaftler abzulenken. »Ich habe vor ein paar Stunden eine Presseerklärung getippt, Tom. Die Geschichte dürfte in Kürze durch die Medien gehen.«
»Gottverdammt«, wiederholte Sherman. »Wie viele wird es diesmal erwischen?«
Beamon zuckte die Schultern. Die Zahl der Toten war für ihn nur eine Zahl – zwar deprimierend, aber bedeutungslos für die Ermittlungen. Er durfte auf keinen Fall fortwährend an die Menschen denken, die rettungslos verloren waren, weil er diese Kerle noch nicht erwischt hatte.
Shermans Blick ging zu Laura.
»Ich weiß nicht, Tom. Es sind so viele Faktoren zu …«
»Nun, dann spekulieren Sie«, rief er ungeduldig.
»Das kann ich nicht. Wir haben keine Ahnung, wie viel sie vergiftet haben – und das ist letztlich entscheidend.«
»Sicher«, stimmte Beamon zu, »aber wir können durchaus damit rechnen, dass das gesamte vergiftete Zeug konsumiert wird. Es gibt nichts so Verzweifeltes wie einen Heroinsüchtigen, der seinen Schuss braucht. Sie schlagen jede Warnung in den Wind und würden jedes Risiko auf sich nehmen – anders als jemand, der ein paar Lines zieht, um in Stimmung zu kommen, ehe er Freitag abends ausgeht.«
»Das ist nett von Ihnen, dass Sie persönlich kommen, um mir die Neuigkeiten zu berichten!« Luis Colombar drückte seinem Arzt herzlich die Hand.
Colombar trug einen blütenweißen Leinenanzug, ein kastanienfarbenes Seidenhemd und strahlte, dass seine Zähne blitzten. Dieses Lächeln hatte ihn mehrere tausend Dollar gekostet, und sein Zahnarzt mühte sich immer noch, die Schäden zu beheben, die durch jahrelange Vernachlässigung seines Gebisses entstanden waren.
Santez folgte ihm zur Bar, wo Colombar ihm einen Stolichnaya mit Tonic einschenkte. Selbst hier in seinem wunderschönen Haus umgab den Drogenbaron trotz seines teuren Anzugs und seiner einstudierten Ausdrucksweise eine Aura eiskalter Gnadenlosigkeit. Santez dachte mit einem leisen Schauder an sein letztes Erlebnis mit Colombar. Schon ein Blick in seine Augen genügte, um zu sehen, dass dieser Mann unberechenbar war.
Dankbar nahm er das Glas und leerte es fast in einem Zug. Der Alkohol brannte ihm in der Kehle, aber er vertrieb nicht die Schmetterlinge in seinem Magen.
»Und was haben Sie zu berichten?«, fragte Colombar.
Santez hatte keine Ahnung, in was für eine Geschichte er hier hineingezogen worden war, doch sein Instinkt sagte ihm, dass es eine hochbrisante Sache war, und er bereute zutiefst seine Gier, die ihn dazu gebracht hatte, den Job als Colombars Arzt anzunehmen. Jetzt war er, ohne es zu wollen, in das unsichtbare Netz der Kokainmafia verstrickt, das sein Land überzog.
»Wir waren noch nicht in der Lage, sämtliche Tests bei Ma… an den Organen des Betreffenden vorzunehmen.« Irgendwie schien es ihm gefährlich, den Namen von Colombars Opfer laut auszusprechen. »Allerdings gehe ich auf Grund der Informationen, die wir vom Johns Hopkins Hospital in den Staaten und durch unsere erste Untersuchung der geschädigten Leber bekommen haben, davon aus, dass er mit fünfundneunzigprozentiger Wahrscheinlichkeit von der gleichen Substanz vergiftet wurde wie die Drogenkonsumenten in den USA.«
So, nun hatte er es gesagt. Angespannt beobachtete er Colombars Gesicht.
Zu seiner Erleichterung nahm der Drogenbaron die Neuigkeiten stillschweigend entgegen. Er nippte lediglich an seinem Drink, stellte ihn dann ab und klopfte Santez auf die Schulter.
»Ich danke Ihnen sehr für Ihre Hilfe, Doktor.« Er nahm Santez das Glas aus den zitternden Händen und führte den alten Mann nach draußen.
»Fahren Sie vorsichtig!«, rief er, als der Arzt sich hinter das Lenkrad des Blazer setzte, den er immer mietete, wenn er in die Berge kam. Mit angehaltenem Atem drehte Santez den Zündschlüssel – und war sicher, dass der Wagen in einem Feuerball explodieren würde. Doch der Motor sprang an und nichts geschah.
»Haben Sie’s gehört?«
Alejandro Perez hatte in einem der großen Sessel vor dem Fernseher Platz genommen. Er trug weiße Shorts und ein weißes Polohemd. Neben ihm lag ein Tennisschläger.
»Ich habe es gehört«, bestätigte er. »Und ich denke, ich weiß inzwischen auch, wie es gemacht worden ist.«
Colombar ließ sich in den Sessel ihm gegenüber fallen. Seine Lippen waren fest zusammengepresst.
»Einer der Männer, die Sie hergebracht haben, fährt jede Woche mit dem Pritschenwagen los, um Kerosin zu holen. Er hat mir erzählt, dass sie vor ein paar Wochen unterwegs angehalten haben, um sich zu erleichtern, und dabei einen Betrunkenen entdeckt haben, der hinten auf der Ladefläche mitfuhr.«
Colombars verdrossenes Gesicht hellte sich auf.
»Sie haben ihn laufen lassen.«
»Scheiße!«
»Ich habe unsere Wachen bei den Raffinerien verdoppelt und ihnen gesagt, dass stets einer von ihnen hinten auf dem Laster mitfahren soll. Außerdem werden wir von nun an das Kerosin nach einem Zufallsprinzip bei verschiedenen Lieferanten kaufen.«
Colombar kochte bei dem Gedanken, wie knapp ihnen der Mann entwischt war, der ihm das angetan hatte. Er holte tief Atem und unterdrückte mühsam seine Wut. »Ich will, dass der Scheißkerl, der ihn hat laufen lassen, sofort umgelegt wird! Den anderen schicken Sie zurück zur Raffinerie – aber geben Sie ihm ein kleines Andenken mit.« Wächter waren nicht so leicht zu kriegen, und er schien sie besonders schnell zu verlieren.
Perez wirkte etwas verlegen. »Er … ist während seines Gesprächs mit Rico verstorben.«
»Oh.« Colombar stand auf und lief hinter dem Sofa auf und ab, eine Angewohnheit, über die sich sein Innenarchitekt schon häufiger beschwert hatte, da allmählich ein heller Pfad auf dem handgeknüpften Perserteppich sichtbar wurde.
»Wann kriegen wir die Analyse der Kerosinprobe, die wir weggeschickt haben?«
»Wahrscheinlich nicht vor zwei Wochen.«
»Egal. Ich weiß sowieso, was herauskommt.« Colombar blieb stehen. »Irgendjemand muss doch was wissen – dieser Kerl muss in der Stadt herumgelaufen sein und Fragen gestellt haben.« Er überlegte kurz. »Geben Sie bekannt, dass ich zweihundertfünfzigtausend Dollar für Informationen über diesen Hundesohn zahle.«
Die dichten Wolken, durch die sein Flug beinahe verspätet in Denver gelandet wäre, waren wundersamerweise verschwunden. Mark Beamon kniff die Augen zusammen, als er auf einen steilen Kiesweg einbog und direkt in die Sonne schaute.
Oben auf der Anhöhe stoppte er den Wagen, der ein Stück zurückrollte, und zog zögernd die Handbremse.
Er hasste Colorado. Er hasste die schimmernden Berge, die saubere Luft und die Radfahrer, die ihm zugewinkt hatten, als er an ihnen vorbeigefahren war. Zu Begräbnissen gehörte einfach eine düstere Umgebung. Und bei der Beerdigung eines Familienmitglieds – besonders eines Kindes – sollte es zumindest ordentlich regnen.
Beamon legte den Gang ein und fuhr weiter, ohne die Handbremse zu lösen. Auf dem höchsten Punkt hielt er wieder an und schaute nach unten.
Zur Linken des hohen Friedhofstors standen nicht weniger als vier weiße Lieferwagen. Auf jedem prangte eine Satellitenschüssel und ein grelles Logo, das aus dieser Entfernung nicht zu lesen war, aber er konnte wohl mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass es sich um Fahrzeuge einiger Nachrichtensender handelte. Beamon sparte es sich, die Autos zu zählen, die am Zaun standen, oder die Leute, die auf ihren Dächern saßen und durch armlange Kameraobjektive spähten.
Er löste die Bremse und fuhr die Anhöhe hinunter. Unterwegs hatte er ein paar Gewissensbisse gehabt wegen der Szene, die er in der Mietwagenagentur in Denver gemacht hatte, weil man dort keine Wagen mit getönten Scheiben gehabt hatte. Als sich jedoch die enormen Objektive der Presse auf ihn richteten, nahm er sich vor herauszufinden, wer diese Mietwagenagentur leitete und ihm von jemandem die Haustürlampe zerschießen zu lassen.
Beamon verlangsamte das Tempo, blieb dreißig Zentimeter vor dem Friedhofstor stehen und kurbelte das Fenster hinunter. Ein Blitzlichtgewitter flammte auf, doch ein hoch gewachsener Mann mit dunkler Sonnenbrille stellte sich rasch vor das Autofenster.
»Tut mir Leid, was mit deinem Neffen passiert ist, Mark.«
»Denen nicht.« Beamon deutete mit einer Kopfbewegung auf die Pressemeute. »Es ist schön, dich zu sehen, Frank. Ich bin dir wirklich dankbar für deine Hilfe.«
Frank nickte nur und schaute zu Boden. »Kein Problem. Ich kann bloß kaum glauben, dass diese Geier den Mumm haben, einfach hier aufzukreuzen.«
»War doch klar. Sobald sie erfahren haben, dass mein Neffe gestorben ist, weil er verseuchtes Koks geschnupft hat, haben sie alle anderen Termine gestrichen.«
Frank zuckte die Schultern und richtete sich zu seiner ganzen Größe von annähernd zwei Metern auf. »Es hat bereits angefangen. Du beeilst dich besser.«
Beamon ließ den Wagen vorwärts rollen und folgte einem zweiten, dunkel gekleideten Mann, der ihm das Tor öffnete.
Frank war immer ein guter Freund gewesen. Er hatte mit keiner Silbe protestiert, als er ihn angerufen und gebeten hatte, den unangenehmen und nicht ganz legalen Job als Rausschmeißer beim Begräbnis seines Neffen zu übernehmen. Frank war jedoch der einzig richtige Mann dafür. Ein Blick auf sein Gesicht mit den tiefen Aknenarben und seine kräftigen zweihundertfünfzig Pfund genügten, dass selbst der hartgesottenste Reporter es sich zweimal überlegte, ehe er etwas über das Recht der Öffentlichkeit auf Informationen daherschwafelte.
Beamon hielt dicht bei einem blauen Toyota, den er absichtlich blockierte, um einen Vorwand zu haben, am Ende der Trauerfeier rasch zu verschwinden. Mit einiger Mühe stieg er aus dem Auto und stapfte durch die Schneeverwehungen zwischen den Grabsteinen auf eine kleine Gruppe schwarz gekleideter Trauernder zu, die sich gegenseitig stützten.
Er war dankbar, dass sich keiner umschaute, als er eine günstige Position hinter einem Mann fand, der ihm die Sicht auf den Sarg nahm. Flüchtig spähte er um seine Schulter herum zu seiner Schwester. Ihr Kopf war gesenkt und ihr Blick starr auf das Ding gerichtet, das er lieber nicht sehen wollte.
Die Trauerfeier dauerte ewig.
Der Priester murmelte mal vor sich hin, dann wieder hob er seine Stimme, aber er sagte nichts, was Beamon auf sich beziehen konnte. Er sprach nur von der weit verbreiteten Gottlosigkeit, die zu dem Tod des Jungen geführt hätte. Beamons Gedanken schweiften ab, und er musterte die kleine Gruppe, die sich hier versammelt hatte. Er kannte fast niemanden aus dem Leben seiner Schwester, was allerdings nicht überraschend war. Sie hatten sich schon als Kinder nie wirklich nahe gestanden. Heute sahen sie sich nur, wenn er mal auf Urlaub daheim war, und redeten dann befangen wie völlig Fremde über irgendwelche Belanglosigkeiten.
Beamon hatte nicht gemerkt, dass der Priester längst schwieg, und wurde erst aus seinen Gedanken gerissen, als die Leute sich an ihm vorbeidrängelten. Er schaute auf und sah seine Schwester zielstrebig auf sich zukommen. Trotz der Träne in ihrem rechten Augenwinkel war ihr Blick kalt.
»Du bist mir nie ein besonders guter Bruder gewesen, Mark.«
Er sah nicht viel Sinn darin, es abzustreiten, und schwieg.
»Jetzt hast du die Gelegenheit, es wieder gutzumachen. Finde heraus, wer Kevin das angetan hat. Finde es heraus und bring ihn um.« Sie schob sich an ihm vorbei und eilte auf die Wagen zu.
Kevin.
Er schaute auf den schmutzigen Schnee rings um sein Grab und dachte an die wenigen Erinnerungen, die er an den Jungen hatte. Er war unglaublich gescheit und dazu ungestüm und abenteuerlustig gewesen, ganz ähnlich wie er selbst in seinem Alter. Allerdings war es in den frühen sechziger Jahren noch wesentlich strenger zugegangen, was ihn daran gehindert hatte, allzu weit vom rechten Weg abzuschweifen. In den neunziger Jahren hatten es fast keine Einschränkungen mehr gegeben. Bis jetzt.
»Franz – nein«, seufzte Scott Dresden müde.
Franz Gullich schraubte ungerührt die Flasche Jack Daniels auf und warf den Verschluss in den Papierkorb – ein altes Ritual, das Dresden zu fürchten gelernt hatte.
Gullich war nicht aufgrund seiner Abstinenz der Chef des deutschen Bundeskriminalamts geworden, doch seine Fähigkeit, selbst in angetrunkenem Zustand logisch zu denken und verblüffende Schlussfolgerungen zu ziehen, wurde nicht nur in Europa, sondern auch in Amerika bestaunt. Er und Dresden waren rasch Freunde geworden während Dresdens Dienstzeit als Assistant Legal Attaché in Bonn – eine Freundschaft, die auf gegenseitigem Respekt beruhte.
Da Gullich keinerlei politische Ambitionen hatte, war es eine Freude, mit ihm zu arbeiten. Er hatte vor fast zwanzig Jahren als Streifenpolizist in den Straßen von München angefangen und war auch heute noch in erster Linie einfach ein Bulle. Dresden vermisste oft die Gesellschaft von Polizisten in seiner gegenwärtigen Position als FBI-Agent und Diplomat.
Gullich zog zwei große Becher aus einer Vitrine und blies den Staub auf ihnen weg.
Anschließend ließ er sich auf dem Sofa nieder und stellte die Flasche neben sich, was Schlimmes ahnen ließ. Dresden drückte einen Knopf der hochkomplizierten Telefonanlage auf seinem Schreibtisch.
»Hallo, Kip? Kip?«
»Hallo, Scott. Endlich herausgefunden, wie man die Anlage bedient?«
»Ja. Franz ist hier. Warum kommen Sie nicht auf einen Drink herüber?« Dresden wusste, dass die Flasche am Ende der Nacht leer sein würde und hatte vor, die Qualen ein bisschen zu verteilen.
»Liebend gern, Scott, aber ich habe eine Verabredung und bin schon spät dran. Sagen Sie ihm, wir treffen uns, wenn er zurückkommt. Ich bin gespannt darauf, was er über Quantico zu sagen hat.«
Dresden schaltete die Sprechanlage aus und ging hinüber zu Gullich, wobei er überlegte, wie er sich an seinem Assistenten für diese kleine Notlüge rächen könnte.
Gullich schenkte bereits großzügig die Becher voll, worauf fast ein Drittel der Flasche leer war. Er streifte sich die Schuhe ab und legte die Füße auf den Sofatisch. Die Platte war nicht befestigt und wackelte heftig, sodass die Flasche um ein Haar umgefallen wäre, was er jedoch gar nicht zu bemerken schien.
»Prost«, sagte er und hob seinen Becher.
»Prost.« Dresden setzte sich auf den Zweisitzer, der dem Sofa schräg gegenüber stand.
Der Deutsche nahm einen kräftigen Schluck und kniff dabei ein wenig die Augen zusammen, was die tiefen Krähenfüße betonte, die ein Überbleibsel der Jahre waren, als er in den strengen deutschen Wintern auf den Straßen Dienst geschoben hatte.
Das Gespräch drehte sich anfangs um allgemeine Fragen politischer und wirtschaftlicher Natur und wurde zunehmend persönlicher, je mehr der Alkohol Wirkung zeigte. Eine Stunde später waren sie beim Thema Schwiegereltern angelangt, und einer lauschte dem anderen teilnahmsvoll, was er so zu berichten hatte. Dresden fühlte sich ein wenig benommen und wusste, dass der nächste Morgen furchtbar sein würde. Gullich war dagegen kaum etwas anzumerken, nur sein Englisch wurde immer schlimmer. Dresden sprach Deutsch und Französisch so gut wie seine Muttersprache, doch Gullich bestand darauf, mit ihm Englisch zu reden, weil er Übung bräuchte.
Als Gullich das Thema Schwiegereltern leid war, verfiel er in Schweigen und griff nach der fast leeren Flasche. Dresden streckte seinen Becher aus, um ihn noch mal füllen zu lassen. Der Deutsche schaute ihn vorwurfsvoll an, da er noch fast voll war.
»Und wie läuft die Jagd auf den Pilzsammler?«
Dresden verzog das Gesicht. »Es ist hoffnungslos. Ich soll einen einzelnen Amerikaner finden, der irgendwo in Osteuropa durch die Wälder läuft und Pilze in einen Müllsack stopft.« Er trank einen Schluck und schüttelte den Kopf. »In Westeuropa hätte ich vielleicht Glück, aber du kennst doch die Behörden im Osten.«
Gullich schwang seine Füße aufs Sofa und streckte sich der Länge nach aus. Dresden glaubte schon, er wolle ein kleines Nickerchen halten, da er eine ganze Weile schwieg, doch schließlich erwachte sein Freund wieder zum Leben.
»Du gehst die Sache völlig falsch an«, sagte Gullich und wechselte ins Deutsche.
Dresden beugte sich etwas vor. Er kannte Franz lange genug, um zu wissen, dass er auch im betrunkenen Zustand nie dummes Zeug daherredete. »Wie meinst du das?«
»Du bist doch hier aufgewachsen, oder?«
»Nicht hier – in Berlin«, antwortete Dresden. »Mein Vater war in der Armee. Aber das weißt du ja.«
Gullich grinste. »Es ist beinahe komisch, wie fremd dir deine Landsleute eigentlich sind. Ich will dir mal eine Frage stellen. Was siehst du, wenn du in Bonn auf einen amerikanischen Touristen triffst?«
Gullich schweifte vom Thema ab, und Dresden entspannte sich wieder. Offenbar hatte sein Freund schon ein paar Drinks gehabt, ehe er zu ihm gekommen war, und verlor den Faden.
Da er keine Antwort bekam, beantwortete der Deutsche die Frage selbst. »Du siehst einen fetten, schlecht gekleideten Ausländer, der keinerlei Ahnung von unserer Kultur oder Sprache hat. Ohne Fremdenführer wären die meisten von ihnen nicht mal in der Lage, ihre Hotels zu finden, und würden auf den Straßen verhungern.«
Dresden öffnete den Mund, um seine Landsleute zu verteidigen, ließ es aber sein, als ihm klar wurde, dass sein Freund zu neunzig Prozent Recht hatte.
»Und das in Westeuropa. Was glaubst du, wie verloren sie erst im Osten sind.«
Dresden wartete, bis sein Freund den Blick abwandte, und kippte einen guten Teil seines Drinks in den kränklich aussehenden Baum neben dem Sofa. Seine Sekretärin, die sich viel auf ihren grünen Daumen einbildete, konnte einfach nicht begreifen, warum das Bäumchen derart vor sich hin mickerte.
»Und nun versetz dich mal an die Stelle dieses Typen, den ihr sucht. Du bist, na ja, vielleicht dreimal in Europa gewesen. Du hast dir meinetwegen London, Paris und Rom angesehen. Du sprichst keine Fremdsprachen und bist nie in der ehemaligen Sowjetunion gewesen. Also hast du ein Problem. Du brauchst eine Ladung Pilze aus … Polen, nicht wahr?«
»Ja, dort wachsen sie hauptsächlich«, bestätigte Dresden.
»Also gut, Polen. Du bist nie dort gewesen, sprichst die Sprache nicht und kannst vermutlich keinen Shiitake-Pilz von einem Champignon unterscheiden. Was machst du da?«
Gullich kippte den restlichen Whiskey in seinen Becher und betrachtete voller Bedauern die leere Flasche auf dem Tisch. Dresden beugte sich vor und schenkte seinem Freund etwas aus seinem Becher nach.
Gullich nickte dankbar und fuhr fort: »Du würdest dir ein Buch über Pilze besorgen und mit deinen vier Fremdsprachen und deinem fundierten Wissen über Europa losziehen und sie selbst sammeln. Du hättest keine Probleme, dich zurechtzufinden und würdest gar nicht weiter auffallen. Jemanden wie dich aufzuspüren wäre tatsächlich fast unmöglich. Ein typischer Amerikaner würde allerdings unwillkürlich jede Menge Aufmerksamkeit auf sich ziehen, weil er sich verlaufen würde, weil er fragen müsste, wo er was essen kann, weil er herausfinden müsste, wo die Pilze wachsen – und wer weiß was sonst noch alles.«
»Und was macht er also?«
»Er engagiert jemanden dafür! Er ruft zum Beispiel irgendeinen Bauern an, schickt ihm etwas Geld, lässt sich von ihm die Pilze sammeln und nach Amerika schicken.«
Dresden unterdrückte einen Fluch und goss das bisschen, was noch in seinem Becher übrig war, in den Pflanzenkübel. Franz hatte völlig Recht. Dass er nicht selbst darauf gekommen war! Aber da er sich immer bemühte, das peinliche Verhalten seiner Landsleute im Ausland zu ignorieren, war er vermutlich in dieser Hinsicht blind gewesen.
Gullich streckte einen Arm zur Decke und schwenkte ihn hin und her, dass der Bourbon überschwappte. Er hatte in den vergangenen Monaten ständig amerikanische Fernsehserien gesehen, um sein Englisch zu verbessern, und fragte mit schwerem Akzent: »Da kuckste, was? Tja, ich hab’s eben voll drauf!«